Joshua Tree National Park
Das Vorurteil ist die hochnäsige Empfangsdame im Vorzimmer der Vernunft. (Karl Heinrich Waggert)
Wir fuhren Kilometer um Kilometer durch endlose Halbwüstenlandschaften auf dem Weg zum nächsten Nationalpark. Briefkästen am Straßenrand wiesen auf die Bewohner der flachen Blechhütten hin, die weit verstreut in der Wüstensonne standen. Keine Straßenlaternen, Gärten oder Garagen - nur die Häuser, der Strommast und der Sandweg dorthin. Wir konnten nicht fassen, wie man so leben konnte. Was für Assis müssten das sein: Ausgestoßene aus unserer zivilisierten Welt vegetieren hier vor sich hin, keinen Sinn im Leben sehend, der Allgemeinheit zur Last fallend, zurückgezogen, insichgekehrt und verarmt.
Die Welt urteilt nach dem Scheine. (Johann Wolfgang von Goethe)
Um diese für uns seltsame Lebensart festzuhalten, hielten wir an. Wir wollten unbedingt ein paar Fotos von dieser absonderlichen Lebensweise schießen. Am Straßenrand sank plötzlich unser schwerer Camper im weichen Sand so tief ein, dass es kein Vor und Zurück mehr gab. Alles drücken und schieben half nicht - er sank immer tiefer. Auf der Straße fuhren keine Autos, nur das nächste Haus schien die einzige Möglichkeit zu sein, Hilfe zu holen. Mit lauter Vorurteilen im Kopf machten wir uns auf den Weg. Statt ein dicker grimmiger Mann mit Bierbauch und Knarre, den wir erwarteten, öffnete ein fröhlicher junger Kerl die Tür. Kein Moment wurde gezögert: Mit offenen Schuhen und Schaufel ging es an die Arbeit. Nun kamen auch andere Autofahrer, die alle samt hier wohnten, dazu und es wurde gebuddelt und gezogen. Erst mit Hilfe eines kräftigen Jeeps und einer dicken Eisenkette gelang es unser kleines Zuhause zu befreien.
Mit freundlichen Händedruck und Restaurantempfehlungen für Palm Springs wurden wir verabschiedet. Diese Menschen kannten dieses Prozedere und nicht nur das, sie versicherten uns, dass es für sie der schönste Ort zum Leben sei! Wer hätte das gedacht?!
Was ist Reisen? Ein Ortswechsel? Keineswegs! Beim Reisen wechselt man seine Meinungen und Vorurteile.
(Anatole France)
"The clearest way into the Universe is through a forest wilderness."
(John Muir)
Wenn John Muir mit "forest wilderness" das gemeint hat, was uns im Joshua Tree National Park erwartete, dann können wir seine Worte aus tiefstem Herzen bestätigen. Dieses eigenwillige Naturparadies im Übergangsgebiet zweier Wüsten – der Mojave- und der Colorado-Wüste – entfaltete eine fast surreal anmutende Schönheit, die uns nicht nur visuell, sondern auch emotional gefangen nahm.
Angekommen im Joshua Tree National Park eröffnete sich uns eine bizarre Welt: Skurrile Felsformationen ragten wie von Riesenhand gestapelt in den Himmel, und dazwischen – fast ehrfürchtig wirkend – standen sie: die namensgebenden Joshua Trees. Diese tatsächlich baumhohen Yucca-Palmen stehen oft allein auf weiter Flur, mit ausladenden Ästen, die in alle Richtungen greifen, als wollten sie die Weite der Wüste umarmen. Jeder einzelne wirkte wie ein Kunstwerk.
Es war der perfekte Ort, um sich in Fantasien zu verlieren. Zwischen den windgepeitschten Felsen träumten wir von großen Indianerstämmen, die einst hier ihre Spuren hinterließen, oder gar von Sauriern, die durch diese urtümliche Landschaft streiften. Vor allem die Felsformationen – Splitrock, Skull Rock und der Face Rock – regten unsere Vorstellungskraft an. Besonders eindrucksvoll: die Petroglyphen, die frühere Ureinwohner in den Fels ritzen. Sie brachten uns auf berührende Weise in Verbindung mit der langen, menschlichen Geschichte dieser scheinbar so kargen Region.
Unsere Wanderung zur "Lost Horse Mine" war ein weiteres Highlight. Die Geschichte dieses Ortes – ein Mann, der eigentlich nur sein Pferd suchte und stattdessen Gold fand – klang wie aus einem Wildwestfilm. Der Weg dorthin führte über sanft ansteigende Trails durch weitläufige Kakteenlandschaften. Unterwegs begegneten wir nicht nur netten Wanderern, sondern auch einer eher seltenen Wüstenbewohnerin: Eine Tarantel kreuzte gemächlich unseren Weg. Diese friedliche, nachtaktive Spinne ist faszinierend anzusehen und wird bis zu 30 Jahre alt – ein kleines Wunder der Natur, das wir mit viel Respekt beobachteten.
Ein besonderer Ort, der uns tief beeindruckte, war der Barker Dam. Diese kleine Wasserstelle bildete mitten in der Halbwüste eine Art Oase. Hier tummelten sich bunte Wildblumen, und wir entdeckten sogar ein paar Frösche – ein seltsames, beinahe widersprüchliches Bild in dieser trockenen Umgebung, aber ein berührendes Beispiel für den Lebenswillen, der hier überall spürbar war.
Unser persönlicher Höhepunkt war jedoch die Nacht auf dem Jumbo Rocks Campground. Umgeben von gewaltigen Felsbrocken und dem klarsten Sternenhimmel, den wir je gesehen haben, saßen wir am Lagerfeuer. Der Geruch von Holz, das leise Zirpen der Nacht und die völlige Abwesenheit von Stadtlärm machten diesen Moment zu einem der intensivsten der gesamten Reise.
Aber auch Joshua Tree hat Schattenseiten. Die Hitze am Tag kann erdrückend sein, selbst in den Übergangszeiten, und der Mangel an Schatten macht längere Wanderungen schnell zur Herausforderung. Wasserstellen sind rar – wer nicht vorbereitet ist, kommt hier rasch an seine Grenzen. Zudem nimmt der Tourismus zu, was man an überfüllten Parkplätzen und ausgetretenen Wegen leider merkt.
Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – fühlten wir uns am Ende unseres Aufenthaltes dem Geist dieses Ortes tief verbunden. Joshua Tree ist kein Park, den man einfach "besucht". Man durchlebt ihn. Er fordert Geduld, Respekt und Achtsamkeit. Doch wer sich auf ihn einlässt, wird reich beschenkt.
Mit einem letzten Blick auf die stillen Joshua Trees und die erhabene Felslandschaft im Morgenlicht verließen wir diesen magischen Ort – und tauschten Wüstenruhe gegen den Trubel von Los Angeles. Doch ein Teil von uns blieb dort: unter Sternen, zwischen Steinen und Wüstenbäumen.